Lieber heute als morgen

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52 Texte für das Jahr, um zu sich selbst und zu anderen zu finden.
Peter Gruber hat nach den Grundmustern für ein selbstbestimmtes Leben geforscht. Für ein lebensbejahendes Leben, Lieben, Entscheiden und Befreien. Er ist für sich fündig geworden, vielleicht auch für sie.

Vorwort: Selbstverantwortet sein Leben leben – Heute schon gelebt?

Wichtigen Menschen wird in Interviews häufig die Frage gestellt: „Was soll der letzte Satz in ihrem Leben sein?“

Diese Frage ist mir zu groß. Sie interessiert mich deshalb auch nicht. Mich interessiert, wenn schon, der letzte Satz des heutigen Tages. Der große, finale Satz der letzten Lebensstunde ist der für das Ergebnis einer Lebensbilanz. Eine Bilanz wird nur dann ein gutes Ergebnis bringen, wenn wir die Belege sorgfältig sammeln, die Buchhaltung stimmt und die kleinen Bilanzen der Mehrzahl unserer Aktivitäten positiv sind.

Irgendwann durfte ich lernen, dass ein Unterschied besteht zwischen einem Ziel und dem Sinn, dem Ergebnis und dem Wozu. Selbst wenn mir meine Ziele und mein „großes“ Wozu, der Sinn für mein Leben sehr klar geworden sind, so ist mir ebenso sehr deutlich geworden, dass Mutter Teresa Recht hat, wenn sie sagt: „Gestern ist vergangen, morgen ist noch nicht gekommen. Alles was zählt ist das Heute. Lasst uns also beginnen.“ In diesem Arbeitsauftrag für das Heute ist auch der große Sinn – wie in einem Hologramm – abgebildet, den ich für mich gefunden habe: Eigenes wie fremdes Leben eher mehren denn mindern – das Leben in allen Facetten und Dimensionen, in der physischen Dimension, in der sozialen und der psychischen, der emotionalen und der rationalen, der musischen und der intellektuellen, der mystischen wie auch der ökonomischen, der spirituellen und auch der ökologischen Dimension. Das reicht doch für einen sinnerfüllten Tag aus. Was also soll mich der letzte Satz meines Lebens kümmern, wenn es doch so viele Sätze der Tage, der Stunden und selbst der Augenblicke gibt. Irgendwann wird er schon kommen dieser letzte Augenblick – und er wird im Heute stattfinden und nicht im weit entfernten Morgen.

Sind diese Fragen nach dem Morgen, nach dem großen Finale nicht Flucht vor dem Heute?

Am Ende dieses langen heutigen Tages kann ich mich den folgenden Fragen stellen: „Heute gelebt? Habe ich heute mein Leben gelebt und nicht nur das der anderen? Habe ich heute selbstbestimmt statt fremdbestimmt mein Leben gestaltet? Habe ich heute eigenes wie fremdes Leben eher gemehrt denn gemindert? Habe ich heute ein Leben aus erster Hand gelebt? Habe ich heute gelebt statt gelebt worden zu sein?“

Lieben

Die Griechen haben in der Liebe zwischen eros, philia und agape unterschieden .

Eros ist die Liebe des ersten Stadiums, ausgelöst durch ein starkes Verlangen, durch einen Mangel – „du fehlst mir“. Bei ständigem Zusammenleben nimmt dieses Gefühl nach einem Jahr üblicherweise ab, die Bewährungszeit beginnt. Wenn man es schafft das Fehlen des Mangels zu ersetzen durch die „reife“ Liebe, durch ein Hinwenden auch ohne starkes Sehnen, so wäre „philia“ erreicht.

Philia wird fälschlicherweise häufig nur mit Freundschaft übersetzt, was es auch bedeutet; es bedeutet jedoch mehr, nämlich die Liebe als Hingabe, als unterstützendes Mit- und Füreinander. Diese Liebe braucht eine starke Pflege, sie braucht „leider“ auch den Verstand, die Planung und unterscheidet sich dadurch geradezu diametral von dem alles verzehrenden, stark libidinös besetzten eros, der auf die Arbeit des Neokortex gänzlich verzichtet. In der Phase des eros „spuckt“ ausschließlich der Mandelkern seine libidinösen Hormone aus und überflutet unsere Ganglien der Großhirnrinde. Eros macht uns dumm, und das ist schön, eros lässt uns zu unkontrollierten Handlungen hinreißen, und wir genießen diese Flut an überbordenden Gefühlen.

Die dritte Form der Liebe, die agape, ist die vollendete Liebe. Sie bedeutet – im aristotelischen Sinne – „das Sein des Anderen wollen“. Das Sosein wollen, was auch bedeutet das Anderssein. Sie geht weiter als die Toleranz, die bloß fordert, die Andersartigkeit des anderen zu akzeptieren. Die agape geht mit ihrem Wollen weit über das Akzeptieren, das Annehmen hinaus. 400 Jahre vor dem Herrn von Nazareth, dem wir die Bergpredigt verdanken, hat Aristoteles damit nicht nur die alttestamentarische Nächstenliebe gefordert – „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ -, sondern bereits die Feindesliebe vorweggenommen. Diese Form der Liebe finden wir meist nur in der Mutterliebe verwirklicht, doch sollten wir nicht all diejenigen Menschen vergessen, die sich selbstlos anderen zuwenden.

Am Ende eines langen Tages kann man sich die Frage stellen: „Heute geliebt?“ Habe ich heute geliebt zumindest in den Formen der philia und auch der agape?“

Entscheiden

Fällt es Dir leicht zu entscheiden, aus mehreren Möglichkeiten Dich rasch und klar auf eine Variante festzulegen? Wie kommst Du zu dieser einen Möglichkeit, wie sortierst Du die anderen aus? Folgst Du einer starken inneren Kraft oder hörst Du auf Deine innere Stimme, die Dich das eine und andere erwägen lässt oder gebrauchst Du die Vernunft, die Dir hilft rational abzuwägen? Oder kannst Du die diese Schritte vom Erahnen über das Erfühlen bis zum Überdenken abfolgen lassen? Die starke innere Kraft beseitigt alles Zweifeln und Zögern, was nicht selten auch viel Unheil anrichtet. Wer nicht mehr imstande ist, zu zweifeln, wer seine Gewissheit auch noch für wahr hält, ist im sokratischen Sinne dumm. Dumm ist nicht, wer nichts weiß, dumm ist der, der seine Gewissheit als nicht zu bezweifelnde Wahrheit einstuft. Ihm fehlt die zweite Stufe der Entscheidungsfindung: das in sich Hineinhorchen und das Erwägen der anstehenden Entscheidung. Das rationale Nachdenken, das Überlegen, das Überdenken beginnt. Jedoch setzen wir in diesem Schritt noch nicht die scharf-logischen und analytischen Werkzeuge ein, wir horchen auch noch auf unseren „Bauch“, auf unsere innere Stimme, unsere Intuition, wir achten auf unsere inneren Vorgänge, wir fühlen auch unsere emotionale Seite, was uns gut tut. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf unsere Stimmungen u n d unsere Gedanken.

Im dritten Schritt wird die Vernunft und die rationale Intelligenz mit den dazugehörigen Werkzeugen der Logik und der Analytik eingesetzt. Das Denken in Begründungen und in Bedingungen greift Platz, kühl und mit klarem Kopf die Vor- und die Nachteile abwägend. Die SWOT-Analysen, die Portfolio-Matrixen, das Priorisieren, die Pläne und Prognosen kommen nun – nach der starken inneren und visionären Kraft, nach unserem Bauchgefühl – neokortex-gesteuert zum Einsatz.

Am Ende eines langen Tages kann man sich die Frage stellen: „Heute entschieden? Bin ich heute in allen drei Dimensionen zu einer Entscheidung gelangt?“

Befreien

Frei sein, die Freiheit genießen. Ich schreibe diese Worte zu Beginn meiner langen Ferien, am Morgen, im Bett, mein MacBook Pro auf meinem Knie. Ich genieße die Freiheit. Frei von Zwängen – außer dem inneren Zwang, dies schreiben zu  müssen. Ich empfinde dennoch das Gefühl frei zu sein, frei zu sein von äußeren Zwängen. Und trotzdem bin ich gebunden an einen gegebenen Rahmen, der da Tagesplanung und Abstimmung mit meiner Frau heißt. Diesen Rahmen empfinde ich nicht als Zwang, zumindest noch nicht…

Im Augenblick steht mir noch nichts im Weg, nicht einmal ich mir selbst. Ich folge meiner inneren Stimme, ich entscheide aber auch rational diese Zeilen zu schreiben,  ich entscheide frei, weil ich spüre, dass es mir Freude macht, weil ich es auch genieße die Zwänge des Alltags abzustreifen. Und ich freue mich auch darauf, später mich wieder in den äußeren Rahmen meiner Umwelt, meiner Familie, der Urlaubsvorbereitungen einzufügen – selbstbestimmt und frei. Freiheit bedeutet für mich das Fehlen von äußeren und inneren Zwängen in einem gegebenen Rahmen. Freiheit bedeutet für mich auch selbstverantwortet mein Leben zu gestalten – mit all der Verantwortung für meine Umwelt und meine Mitmenschen.

Am Ende dieses langen Tages werde ich mir die Frage stellen können: „Heute befreit? Habe ich heute mein Leben gelebt oder das Leben anderer? Lebe ich fremd gesteuert oder lebe ich mein Leben aus erster Hand, meiner eigenen?“